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Holocaust-Mahnmal

Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Bau-Mangelstudie zum Holocaust-Denkmal in Berlin

 

Annäherungsversuch eines Bausachverständigen

 

Michael Repp gewidmet

 

Norbert Reimann Berlin

Berlin im April 2010 

Motiv

Bausachverständige äußern sich selten ohne Auftrag und ungefragt zu Werken der Architektur, dies ist in unserem Land Aufgabe der Architekturkritiker. Dabei überlappen sich die Tätigkeitsbereiche dieser beiden Berufsgruppen in großen Teilen. Der Schwerpunkt der Architekturkritiker ist sicherlich im philosophisch-gesellschaftlichen Bereich zu finden, Sachverständige beschäftigen sich mit technischen und so genannten optischen Mängeln, beschreiben meist kaputte oder nicht mehr funktionierende Architektur und hier vertiefend den Makrobereich der wiederum wegen der meist fehlenden technischen Vorkenntnissen den Architekturkritikern verborgen bleibt.

Ganzheitliche Betrachtungsweisen komplexer Architekturen sind wahrscheinlich von einzelnen Personen überhaupt nicht zu bewerkstelligen, ein Team von Analysten wäre hier gefragt.

Fragmente dieses Textes habe ich immer wieder mit meinem Freund, dem Psychologen Michael Repp, besprochen, der leider nicht mehr dazu kam, beim geplanten Korrekturlesen insbesondere die psychologischen und semiotischen Aspekte zu optimieren.

Der Text soll ein Annäherungsversuch an das Denkmal für die ermordeten Juden Europas aus der Sichtweise eines Bausachverständigen sein, gesellschaftliche und politische Betrachtungen spielen dabei eine untergeordnete Rolle.

Vielmehr scheint der Betrachtungsgegenstand hervorragend geeignet zu sein, Baumängel in der Architektur nicht mehr nur als technische oder optische Mängel zu begreifen, als vielmehr die Gesamtfunktionen von Architekturen mit ihren praktischen, ästhetischen und symbolischen Funktionen zu analysieren.

Es gibt für den Autor auch keine Belastungen durch die Entstehungsgeschichte des Denkmals, die Annäherung erfolgte erst am fertig gestellten Objekt; erst nach der eigenen Einschätzung wurden die kritischen Texte zum Denkmal recherchiert und zur Kenntnis genommen. Von diesem Kenntnisstand ausgehend kann davon ausgegangen werden, dass einige neue Betrachtungen vorgetragen werden, die hauptsächlich einer architektursemiotischen Analyse entspringen. Daher wird auf diese Grundlage etwas vertiefend eingegangen um den Leser und Betrachter Material an die Hand zu geben, die vorliegenden Analysen des Holocaust-Denkmals nachvollziehbar zu machen und natürlich auch zu motivieren andere Objekte der Architektur unter diesen Gesichtspunkten zu betrachten.

Typisierung des Bauwerkes

Typisierungen in der Architektur werden meist nach der praktischen Funktion des Werkes vorgenommen (Wohngebäude, Versammlungsstätten etc.). In den Fällen, in denen praktische Funktionen im Hintergrund stehen, haben wir es mit Denkmälern, Mahnmälern, Skulpturen zu tun. Das Zusammenspiel der verschiedenen Funktionen wird später analysiert, hier soll noch nach weiteren Typisierungen des zweiteiligen Bauwerkes gesucht werden.

 

Hypäthrale Architektur

Der oberirdische Teil des Denkmales, das Stelenfeld, kann der hypäthralen 1) Architektur zugerechnet werden. Vitruv 2) beschreibt im zweiten Kapitel seines dritten Buches den Hypaethros als letzten von 8 Tempelformen „Die Mitte aber ist unter freiem Himmel ohne Dach“.

 

Bild 1   Das Stelenfeld
Bild 1 Das Stelenfeld

Das Holocaust-Denkmal zählt sicherlich zu den weltweit größten Bauwerken der hypäthralen Architektur.

 

Hypogäum

Zumindest im weiteren Sinne kann der Ort der Information als Hypogäum 3) bezeichnet werden. Auch wenn mit dem Begriff überwiegend unterirdische Grabbauten gemeint sind, kann hier die unterirdische Lage als Metapher verstanden werden.

 

Die Stelen

Die Stelen 4) haben eine Grundfläche von 0,95 m Breite und 2,38 m Länge. Die Höhen variieren von ebenerdigen Platten bis zu 4,7 m hohe Stelen.

 

Bild 2   Die Stelen
Bild 2 Die Stelen

Diese sichtbaren Teile sind im klassischen Sinne keine Säulen. Vitruv beschreibt die Proportionen von Säulen so, dass die Dicke 1/8 bis 1/10 der Säulenhöhe bemisst. Selbst die höchsten Stelen haben auf die Breite bezogen eine Schlankheit von ca. 1/5, auf die Länge bezogen von nur ca. 1/2. Über die Hälfte der Stelen sind nicht so hoch wie lang, ca. 20 % der Stelen sind nicht so hoch wie breit. Die gängige Definition für diese Kuben wäre „Quader“, demnach hätten wir es nicht mit einem Stelenfeld sondern einem „Quaderfeld“ zu tun.

Für die vorliegende Bauaufgabe ist die Stele mit den Möglichkeiten zu Metapherbildungen sicherlich der geeignetere Begriff.

Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2000 das Gesetz zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ beschlossen. Das Gesetz bezieht sich auf Entwürfe Peter Eisenman´s und spricht von Planung und Verwirklichung eines Stelenfeldes. Nach diesem Gesetz ist demnach in Deutschland auch eine ebenerdige Platte mit den Maßen 0,95 * 2,38 m als Stele definiert.

Über die Funktionen

Der Funktionsbegriff in der Architektur wird bei verschiedenen Autoren wie Vitruv, Jan Mukařovský, Christian Norberg-Schulz, Renato Venturi, Umberto Eco und Nelson Goodman (um nur einige zu nennen) diskutiert. Der Begriff Funktion (lateinisch functio = Verrichtung) kann in der Architektur als Verwendungszweck bezeichnet werden.

 

Vitruv 5) schreibt vor über 2000 Jahren im ersten Kapitel seines ersten Buches in „Die Ausbildung des Baumeisters“: „Wie nämlich auf allen Gebieten, so gibt es ganz besonders auch in der Baukunst folgende zwei Dinge: was angedeutet wird und was andeutet. Angedeutet wird der beabsichtigte Gegenstand (das Ziel), von dem man spricht.“ Diese Sichtweise entspricht dem § 633 Abs.2 BGB n.F. wenn wir von der Verwendungseignung und der Beschaffenheit des Werkes sprechen. 6)

Eine Verwendungseignung kann nur festgestellt werden, wenn der Verwendungszweck, die Funktion definiert ist. Weiter schreibt Vitruv im dritten Kapitel: „Diese Anlagen müssen aber so gebaut werden, dass auf Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut Rücksicht genommen wird. Auf Festigkeit wird Rücksicht genommen sein, wenn die Einsenkung der Fundamente bis zum festen Untergrund reicht und die Baustoffe, welcher Art sie auch sind, sorgfältig ohne Knauserei ausgesucht werden; auf Zweckmäßigkeit, wenn die Anordnung der Räume fehlerfrei ist und ohne Behinderung für die Benutzung und die Lage eines jeden Raumes nach seiner Art den Himmelsrichtungen angepasst und zweckmäßig ist; auf Anmut aber, wenn das Bauwerk ein angenehmes und gefälliges Aussehen hat und die Symmetrie der Glieder die richtigen Berechnungen der Symmetrien hat.“

 

Setzt man Zweckmäßigkeit mit Bauaufgabe gleich, Anmut mit Form und Festigkeit mit Technik ergibt sich das Vitruv´sche triadische System der Architektur:

 

Bild 3   Triadische Relation nach Vitruv
Bild 3 Triadische Relation nach Vitruv

Nelson Goodman 7) schreibt in „Revisionen“ 8): “Schließlich hat ein Werk der Architektur wie nur in wenigen anderen Künsten eine praktische Funktion, etwa für bestimmte Tätigkeiten Schutz zu bieten und sie zu erleichtern, die nicht weniger wichtig ist als seine ästhetische Funktion und über diese oft dominiert. Die Beziehung zwischen diesen beiden Funktionen reicht von wechselseitiger Abhängigkeit über gegenseitige Verstärkung bis zu offenem Zwist und kann höchst komplex sein. ... Ein Bauwerk ist nur insofern ein Kunstwerk, als es auf irgendeine Weise bezeichnet, bedeutet, Bezug nimmt, symbolisiert. Das mag nicht selbstverständlich erscheinen, denn die schiere Masse eines Werks der Architektur und seine tägliche Widmung für einen praktischen Zweck überlagern gern seine symbolische Funktion.“

 

Diese drei Hauptfunktionen nach Goodman entsprechen der triadischen Relation von Vitruv, setzt man Bauaufgabe mit den symbolischen Funktionen gleich, die Technik mit den praktischen Funktionen und die Form mit den ästhetischen Funktionen.

 

Diese drei Funktionsarten kann man sich auch in einem mathematischen x-y-z-Achsenmodell vorstellen. Die drei Achsen treffen sich in einem 0-Punkt und die Funktionen können positiv wie negativ bewertet werden. Dieses Modell eignet sich zur allgemeinen Analyse von Architektur, bei einzelnen Momentaufnahmen lassen sich in diesem Modell auch die Lebensläufe einzelner Bauwerke darstellen.

 

Wenn dieses Modell eine allgemeine Gültigkeit hat, bietet es sich an, auch Baumängel damit zu analysieren.

 

Bild 4   Dreidimensionales Funktionsmodell
Bild 4 Dreidimensionales Funktionsmodell

 

Praktische Funktionen

Das Stelenfeld selbst erfüllt für die Mehrheit der Betrachter kaum praktische Funktionen, von einigen kleineren Personengruppen abgesehen.

Technische Elemente des Stelenfeldes müssen natürlich praktische Funktionen erfüllen. Wenn Funktionen beeinträchtigt sind, sprechen wir von einem Mangel.

Die bekanntesten praktischen Mängel sind die Risse, die bei sehr vielen Stelen festgestellt wurden. Natürlich zeigen die Diskussionen um diese Risse auch eine ästhetische und sogar symbolische Relevanz.

Die Ursachen der Risse werden zurzeit noch untersucht. Betonbauer sehen Risse nicht so problematisch, sind doch viele der Meinung, dass ein guter Beton Risse aufzeigen müsse. Das wiederum wäre hinzunehmen, wenn dies den Beteiligten vorher mitgeteilt worden wäre.

Die Bauaufgabe war aber eine andere: die Wirkung der Stelen sollte dem Betrachter suggerieren, dass es sich um Monolithen handelt.

Praktisch umgesetzt wurde die Bauaufgabe aber mit einer hohlen Leichtbauweise die lediglich eine Kulissenwirkung hat (ähnlich umgedrehte Schuhkartons). Die Stelen können als „Berliner Hohlstelen“ in die Baugeschichte eingehen, da hohle Stelen in der Bautechnik eigentlich nicht bekannt sind.

 

Ästhetische Funktionen

Wenn Einigkeit besteht, dass das Stelenfeld selbst kaum praktische Funktionen hat, was auf fast alle Skulpturen in der Architektur zutrifft, bleiben noch die alles dominierende Symbolischen sowie die ästhetischen Funktionen.

Bei der Bewertung der ästhetische Funktionen scheint das Bauwerk zu polarisieren zwischen erkennbar höchstem Gestaltungswillen einerseits und einer Ablehnung andererseits, meist nur verdeckt ausgesprochen und auf den Beton beziehend.

 

Eine alleinige Betrachtung der Ästhetik ist bei diesem Bauwerk schwierig, wird sie doch von der symbolischen Funktion überlagert. Das Bauwerk steht für etwas, was für die meisten Menschen sehr belastend ist; so etwas darf einfach nicht schön sein.

 

Und doch ist es für viele Betrachter ein schönes Bauwerk, wozu man sich auch bekennen darf.

 

Symbolische Funktionen

Nach Goodman lassen sich die Varianten der möglichen Bezugnahmen in der Architektur unter vier Stichworten zusammenfassen: Denotation, Exemplifikation, Ausdruck, vermittelte Bezugnahme.

 

Nachfolgende Struktur macht die Zusammenhänge deutlich.

 

Weisen der Bedeutung

 

Bild 5   Weisen der Bedeutung nach Nelson Goodman
Bild 5 Weisen der Bedeutung nach Nelson Goodman

Denotation 9)

Die Denotation dient der Klassifikation von Objekten in Form der Repräsentation als bildliche Darstellung von Objekten und Ereignissen. Um zu repräsentieren, muss ein Bild als ein bildliches Symbol fungieren. so dass das Denotierte einzig und allein von den bildlichen Eigenschaften des Symbols abhängig ist. Beispiel: Gebäude, die etwas abbilden; Opernhaus in Sydney - Segelboote.

 

Buchstäbliche Exemplifikation

Die Exemplifikation ist die Hauptweise, in der Werke der Architektur bedeuten. Im Vorgang der Exemplifikation wird Bezug genommen auf Eigenschaften, die ein Gegenstand besitzt und deren Referenz. Die Referenz als Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichneten verweist auf die situativen Gegebenheiten, die den Gültigkeitsbereich des Symbolisierungsprozesses bestimmen. Dabei wird die Denotation vorausgesetzt und von hier aus nach weiteren Kennzeichen gefragt.

 

Beispiel: Brandenburger Tor – Stadttor.

 

Ausdruck

Die Zuschreibung von Eigenschaften betreffen den buchstäblichen Besitz des symbolisierten Gegenstandes oder Ereignisses aber auch Gefühle, Empfindungen, Ideen, Erlebnisse, die damit in Verbindung gebracht werden bzw. ausgelöst werden (sollen). Gefühle und Empfindungen können nur metaphorisch exemplifiziert werden und bringen in dieser Weise Eigenschaften zum Ausdruck.

 

Beispiel: Brandenburger Tor – Grenze, Mauer, Freiheit, Sieg, Macht, Ohnmacht; seit der Wende wieder mit abnehmender Tendenz.

 

Vermittelte Bezugnahme

 

Die vermittelte Bezugnahme entsteht über eine Symbolisierungskette.

 

Teile von Bauwerken übernehmen vermittelte Bezugnahme, wenn sie Formen übernehmen, die z. B. von griechischer oder ägyptischer Architektur abgebildet werden und so indirekt auf solche Bauwerke Bezug nehmen und Eigenschaften exemplifizieren, die diese ausdrücken.

 

Beispiel: Opernhaus in Sydney: denotiert Segelboote, exemplifiziert Befreiung von der Erde, exemplifiziert Spiritualität

 

Bezugnahmen

Eine Analyse der nachfolgenden Bezugnahmen sowie die Zuordnung als

 

  • Denotationen
  • buchstäbliche Exemplifikationen
  • metaphorische Exemplifikationen
  • vermittelte Bezugnahmen

wird einem semiotischen oder architekturtheoretischen Seminar überlassen.

 

Wogendes Weizenfeld

Diese Bezugnahme wird dem Architekten zugeschrieben, symbolisiert nicht die direkte Bauaufgabe und unterstützt dadurch die Zulässigkeit auch anderer Bezugnahmen.

 

Diese Bezugnahme ist nachvollziehbar, nicht bei der Begehung des Mahnmals, eher bei der Betrachtung des Models aus einem bestimmten Winkel.

 

Friedhof, Gräberfeld, Sarkophag

Die häufigsten Bezugnahmen (Siehe auch Wikipedia).

Die Stelen erinnern an Grabsteine. Das Stelenfeld ähnelt den Sarkophag-Gräbern jüdischer Friedhöfe (Alter jüdischer Friedhof in Prag, Ölberg in Jerusalem).

Der Förderkreis erklärt das Denkmal zum Kenotaph 10) und vergleicht es mit Kriegerdenkmälern und Soldatenfriedhöfen.

 

Die graue Farbe der Stelen soll an die Asche der verbrannten Juden erinnern, die meistens in Gewässer oder auf Felder gestreut wurde.

 

Verlorene Räumlichkeit

Das Stelenfeld zerstört gewissermaßen Raum durch eine ausschließliche Verflechtung schmaler Wege. Es beinhaltet keine Räume, in denen man sich wohl fühlen könnte.

 

Labyrinth

Sehr häufig wird das Stelenfeld als Labyrinth bezeichnet; es ist aber eher das Gegenteil eines Systems von Linien oder Wegen, welches durch zahlreiche Richtungsänderungen ein Verfolgen oder Abschreiten des Musters zu einem Rätsel macht: es ist eben vorhersehbar. Von jedem Standort gibt es mindestens zwei, an den Kreuzungen vier, Möglichkeiten, dem System zu entrinnen.

 

Einem einzelnen Verfolger fällt daher eine Verfolgung in dem Muster schwer. Gut vorstellbar wäre eine filmische Verfolgungsszene.

 

Trotzdem kann man sich als Verfolgter in dem Muster nicht verstecken, dafür gibt es keinen Raum. Mit je einem Beobachter am Ende jeder Gasse ist jeder Punkt einsehbar.

 

Dieser scheinbare Widerspruch zwischen vermeintlicher Fluchtmöglichkeit und dem Gefühl einer möglichen ständigen Beobachtung ausgeliefert zu sein, treffen wahrscheinlich viele persönliche, menschliche Schicksale und symbolisiert sehr stark die Bauaufgabe.

 

Einen passenden Begriff für diese Art der Bezugnahme konnte (noch) nicht gefunden werden.

 

Bild 6   Rettungsweg
Bild 6 Rettungsweg

Dominosteine

Einige Perspektiven des Stelenfeldes lassen durchaus die Assoziation zu Dominosteinen zu.

 

Bild 7   Dominosteine
Bild 7 Dominosteine

Die Stadt

Das Bauwerk symbolisiert Stadt, wenn der Betrachter Maßstabverschiebungen zulässt.

 

Bild 8   Die Stadt
Bild 8 Die Stadt

Zauberberg

„Doch, sie sind hoch“ antwortet Joachim seinem Vetter Hans Castorp bei Thomas Mann 11). „Doch, hoch ist das alles schon. Aber wir selbst sind scheußlich hoch, musst du bedenken. Da kommen die Erhebungen nicht so zur Geltung“.

So wie der Zauberberg nicht so sehr in die Höhe als in die Tiefe wirkt, kann natürlich auch ein großer Teil der Stelen unter der Erde liegen, gewissermaßen als virtuelles Bauwerk unter der Erde, ein Hypogäum des hypäthralen Stelenfeldes.

Bild 9   Zauberberg 1
Bild 9 Zauberberg 1
Bild 10   Zauberberg 2
Bild 10 Zauberberg 2

Das (sichtbare) Denkmal nur als kleiner Teil eines großen (virtuellen) Denkmals, welches an dieser Stelle in Berlin aufgebrochen ist.

Allgemeine Verunsicherung der Nutzung

 

Besucherordnung für das Stelenfeld, Auszug

(4) Nicht gestattet ist:– das Lagern im Stelenfeld, auf Stelen zu klettern, von Stele zu Stele zu springen.

 

Neben den Aufsichtspersonen des Denkmals kann man auch immer wieder Privatpersonen beobachten, die auf die Besucherordnung hinweisen, wenn z.B. ein Fotograph eine Stele betritt.

 

Ein gewisse Verunsicherung wird produziert, sind doch einige „Stelen“ ebenerdig angebracht und liegen dazu teilweise im Fußgängerbereich, wo ein betraten nicht zu vermeiden ist.

 

Bild 11   Stelen dürfen nicht betreten werden
Bild 11 Stelen dürfen nicht betreten werden
Bild 12   Stelen können nicht „nicht“ betreten werden
Bild 12 Stelen können nicht „nicht“ betreten werden

Praktische Funktionen vs. symbolische Funktionen

Nachfolgend soll an zwei Beispielen aufgezeigt werden, wie

  • symbolische Funktionen des Stelenfeldes als praktische und ästhetische Funktionen im Ort der Information übernommen wurden und wie
  • praktische Funktionen aus dem Ort der Informationen die symbolischen Funktionen des Stelenfeldes konterkarieren.
Bild 13   Gegenseitige Bezugnahmen
Bild 13 Gegenseitige Bezugnahmen

Stelenfeld vs. Hypogäum

Die Innenarchitektur nimmt deutlichen Bezug auf das darüber liegende Stelenfeld. Dies ist in der Architektur eigentlich wünschenswert, nur Zeigt dieses Beispiel, dass es doch auch Grenzen gibt. Die Grundrissformen des Stelenfeldes werden maßstabsgenau übernommen, nicht nur in der Raumstruktur, auch bei den Einrichtungsgegenständen, wie Vitrinen, Sitzgelegenheiten etc.

Die sehr gelungene Symbolisierung im oberirdischen Teil des Gebäudes verkommt hier bei der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen nach gleichen Mustern. Die Symolisierungskette wäre demnach:

Ausstellungsvitrine – symbolisiert Denkmal – symbolisiert ermordete Juden Europas. Dies ist gestalterisch nicht glücklich gelöst.

 

Bild 14   Raum der Namen, Sitzmöglichkeiten
Bild 14 Raum der Namen, Sitzmöglichkeiten
Bild 15   Raum der Orte, Vitrinen
Bild 15 Raum der Orte, Vitrinen

Hypogäum vs. Stelenfeld

 

Bild 16   Entwässerung der Schornstein-Stele
Bild 16 Entwässerung der Schornstein-Stele

Um es vorweg zu nehmen: die Entrauchung der unterirdischen Räume erfolgt durch hohle Stelen des Stelenfeldes.

 

Bautechnisch ist dies eine Lösung, die auf der Hand liegt: wohin mit dem Rauch, wenn es brennt? Über der Decke stehen die hohlen Stelen, da konnten einige (nicht wenige) auch als Rauchschornsteine fungieren. Zum Raum hin eine Klappe die sich bei Feueralarm öffnet und oben, unter dem Abdeckrost, ebenfalls eine Brandschutzklappe.

 

Die betreffenden Stelen müssen bei Regen entwässert werden, darum zeigen einige Stelen im Sockelbereich eine Entwässerungsöffnung.

 

Über die Stelen wurde auch schon entraucht, es handelt sich nicht um eine theoretische Maßnahme: bei den Funktionstests wird üblicherweise mit künstlichem Rauch die Funktion simuliert.

Es ist für viele Menschen nicht nachvollziehbar, warum ein solch symbolisches Bauwerk mit dieser Zusatzfunktion versehen wurde. Auf eine Fotocollage mit rauchenden Stelen wird hier bewusst verzichtet.

Bautechnisch ist es überhaupt kein Problem eine andere Entrauchung vorzunehmen, wenn man sich nicht dem Diktat unterwirft, dass die unterirdischen Räume ein Spiegel des Stelenfeldes sind.

 

Bild 17    Stele mit Entrauchungsöffnung
Bild 17 Stele mit Entrauchungsöffnung
Bild 18   Rauchabzugsklappe, links, vorne
Bild 18 Rauchabzugsklappe, links, vorne
Bild 19   Lokalisierung einiger „Entrauchungs-Stelen“
Bild 19 Lokalisierung einiger „Entrauchungs-Stelen“

Mangelbewertung

Es stellt sich die Frage, wie man mit solch einem architektonischen Fauxpas umgeht.

 

Die nachfolgende Matrix baut auf zwei Matrizen von Prof. Oswald 12) auf und soll bei der Einschätzung helfen, ob ein Mangel nachgebessert werden muss oder ob eine Minderung (in diesem Fall eine Hinnehmbarkeit besteht) ausreicht 13).

 

Bild 20   Matrix zur Beurteilung der Hinnehmbarkeit von Störungen symbolischer Funktionen in der Architektur
Bild 20 Matrix zur Beurteilung der Hinnehmbarkeit von Störungen symbolischer Funktionen in der Architektur

Wenn man die Gewichtung der symbolischen Funktionen der Stelen als sehr wichtig und die Beeinträchtigung der symbolischen Verwendungseignung dieser Stelen als sehr stark einstuft, bleibt nur eine Nachbesserung.

 

Eine Nachbesserung würde bedeuten:

  • Austausch der betreffenden Stelen
  • Einbau eines anderen Entrauchungskonzeptes der unterirdischen Räume.

Wenn die Bewertung in diesem Punkt negativ ausfällt, so hat dies keine Auswirkungen auf die Gesamtbewertung des vielfach codierten Denkmals.

Anmerkungen

 

1) Hypaithrios = unter freiem Himmel; unüberdachter Bau

 

2) Vitruvius Pollio, Marcus, Zehn Bücher über Architektur, Übers. von Curt Fensterbusch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981

 

3) Hypo = unter; gaia = Erde; somit das unter der Erde liegende

 

4) griechisch; die „Säule“

 

5) Vitruvius Pollio, Marcus, Zehn Bücher über Architektur, Übers. von Curt Fensterbusch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981

 

6) Kamphausen, Peter-Andreas, Bauschadensfälle, Band 3, Günter Zimmermann und Ralf Schumacher (Hrsg.), Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag, 2003

 

7) Nelson Goodman, geboren 7. August 1906, gestorben 25. November 1998, Professor für Philosophie an der Harvard University Philadelphia.

 

8) Goodman, Nelson, Revisionen, Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, 1. Auflage, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 19939) Das Denotat (lateinisch denotatum: 'das Bezeichnete')

 

10) Ein Kenotaph (auch Cenotaph oder Zenotaph, aus altgr. kenotaphion, zu kenos ‚leer‘ und taphos ‚Grab‘), auch Scheingrab genannt, ist ein Ehrenzeichen für einen oder mehrere Tote. Im Gegensatz zum Grab dient es ausschließlich der Erinnerung und enthält keine sterblichen Überreste.

 

11) Thomas Mann, Der Zauberberg, S. Fischer Verlag, Berlin 1924

 

12) Oswald, Rainer: Hinzunehmende Unregelmäßigkeiten bei Gebäuden, Wiesbaden, Berlin; Bauverlag, 1998

 

13) Neben der vorgestellten Matrix gibt es noch zwei Matrizen für praktische und symbolische Mängel

 

Bildnachweis

 

Bild 1 Das Stelenfeld

Bild 2 Die Stelen

Bild 3 Triadische Relation nach Vitruv

Bild 4 Dreidimensionales Funktionsmodell

Bild 5 Weisen der Bedeutung nach Nelson Goodman

Bild 6 Rettungsweg

Bild 7 Dominosteine

Bild 8 Die Stadt

Bild 9 Zauberberg 1

Bild 10 Zauberberg 2

Bild 11 Stelen dürfen nicht betreten werden

Bild 12 Stelen können nicht „nicht“ betreten werden

Bild 13 Gegenseitige Bezugnahmen

Bild 14 Raum der Namen, Sitzmöglichkeiten

Bild 15 Raum der Orte, Vitrinen

Bild 16 Entwässerung der Schornstein-Stele

Bild 17 Stele mit Entrauchungsöffnung

Bild 18 Rauchabzugsklappe, links, vorne

Bild 19 Lokalisierung einiger „Entrauchungs-Stelen“

Bild 20 Matrix zur Beurteilung der Hinnehmbarkeit von Störungen symbolischer Funktionen in der Architektur

 

Bild 14 http://www.holocaust-denkmal- berlin.de/fileadmin/medias/presse/FOR_RaumderNamenC.jpg

 

Bild 8 links Aus Werbefilm Peugeot 307

Bilder 1, 2, 6, 8 rechts, 15, 18, Photographie Jutta Wrase

Alle anderen Norbert Reimann

 

Erschienen

2014 | OriginalPaper | Buchkapitel

Über Form und Struktur Geometrie in Gestaltungsprozessen

Autor: Cornelie Leopold

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Tagungsband

9. Tagung der DGfGG 2013 in Kaiserslautern

"über form und struktur. aktuelle anforderungen an die geometrie"

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